In den Süden – Der Reise fünfter Teil

Weiterfahren
Na, das ist ja wieder mal hervorragend organisiert, sagt Carissima und blinkt nervös mit der Temperaturanzeige, obwohl der Motor noch keine Temperatur haben kann, weil wir eben erst losgefahren sind. Me-e-e-e-i-n Go-o-o-tt, stöhne ich, während wir über das Kopfsteinpflaster rumpeln, jeder kann sich mal verfahren. Nach dem nächsten Schlagloch hört Carissima auf zu blinken. Hinter mir wird gehupt. Man nimmt an, dass ich der Grund für den zähfließenden Verkehr durch Neapels Vororte bin, doch an sich ist dafür ein Tanklaster verantwortlich, der sich aus irgendeinem Grund durch die engen Gassen zwängt. Hinter ihm eine Kolonne kleiner Fahrzeuge, vor ihm parkende Autos. Habe ich einmal behauptet, die Franzosen würden leger parken? Vergesst das einfach. Die machen das ganz pflichtbewusst im Vergleich zu hier. Hier werden Fahrzeuge überall abgestellt, wo Platz ist. Aus Straßen werden Einbahnen, weil dreispurig geparkt wird, auf Autobahnauffahrten, unter Brücken, überall, wo Platz ist, wird geparkt. Das Gute daran: man fällt  nicht auf, wenn man stehen bleibt, um sich zu orientieren, mit irgendwem am Straßenrand zu sprechen oder einkaufen zu gehen.

Endlich taucht die vermaledeite Autobahn vor mir auf. Sie war ausgesprochen gut beschildert, bis ich ein Schild übersehen habe und in den dichten Stadtverkehr geraten bin. Nun ist das Geholper zu Ende und um 3,05 Euro dürfen wir die Stadtautobahn Neapels benutzen und von oben auf die Altstadt und die Wohnsilos schauen. Hier wohnt man im achten Stock und sieht geradeaus auf die Autobahn. Die Stadt ist irre. Es beginnt zu regnen und es wird gefahren, als ginge es um einen Preis. Hier erkennt man potenziell gefährliche Autofahrer ganz einfach: deren Autos sind in einem Schrottzustand und werden nicht mehr repariert. Wenn also jemand auf die Straße drängt, dessen Fahrertür an fünf Stellen eingedrückt ist oder dessen Stoßstange mit Tape befestigt ist, dann macht man besser Platz. Denn dieser Fahrer wird fahren, egal ob er Vorrang hat oder nicht. Ist man jedoch mit einem frisch polierten, schicken Fahrzeug, vielleicht auch noch deutschen Fabrikats, konfrontiert, so kann man getrost fahren. Es gibt auch hier Menschen, die wie Hölle auf ihre Autos achten.

Toitoitoi, sage ich, uns ist noch niemand reingefahren. Alles mein Verdienst, sagt Carissima, Du schaust je eh nur in der Gegend rum. Ich seufze. Wo sie recht hat, hat sie recht.

Pozzuoli
Ich bin aufgeregt wie ein Kind, heute schlafen wir in einem Krater. Der Vulkan Solfatara, den Römern Tor zur Unterwelt, ist ein ruhender Vulkan im Gebiet der so genannten Phlägreischen Felder. Diese Campi Flegrei, die „heißen Felder“, sind vor zwei Millionen Jahren entstanden und heute dampft es immer noch. An manchen Stellen blubbert Schwefelwasser, an anderen Schlamm, alles kommt mit 170 bis 350 Grad an die Oberfläche, es lohnt sich also, ein wenig auf Abstand zu bleiben.

Heute Nacht war es so mild, dass ich das erste Mal seit langem wieder mit offener Tür geschlafen habe. Draußen rauscht der Wind in den Bäumen und manchmal, wenn krachend eine Eichel auf dem Autodach landet, erschrecke ich. Trotz der Natur, der Ferne von Straßenlärm und menschlichen Geräuschen, schlafe ich unglaublich schlecht. Das letzte Mal ging es mir am Mont Batu auf Bali so. Ich habe den Verdacht, dass ich auf Vulkanen schlecht schlafe, obwohl ich sie so mag. In der Früh bin ich so verschlafen, dass ich mir das heiße Wasser vom Kaffeeaufguss auf den Fuß kippe. Beim Erstversuch, den Fuß zu kühlen, werfe ich den Kaffeefilter um und das halbe Auto ist voller frisch aufbegrühtem Kaffee plus Filtersatz.

Als es dann nach abgekühltem Fuß und frisch geputztem Innenraum zu regnen beginnt und plötzlich die Anzeige der Solaranlage wie verrückt blinkt, bin ich das erste Mal auf dieser Reise so richtig desperat. Jetzt sitze ich über der Bedienungsanleitung, verstehe kein Wort, bedauere mich dafür, dass ich allein bin und überlege das erste Mal ernsthaft, nach Hause zu fahren. Nicht weil ich will, sondern weil ich mit all der Technik und dem wehen Fuß jetzt einfach nicht alleine sein will. Mal sehen, ob das „nicht wollen“ von etwas und das „wollen“ von etwas anderem bis morgen eine Gewichtung erreicht, die eine Entscheidung klar aufzeigt.

Gestern war Halloween und der Vulkankrater war in den buntesten Farben beleuchtet. Das ist nicht nur zu Halloween so, das ist offenbar jeden Samstag so. Ich bin die einzige Besucherin, obwohl das Gelände am Samstag mit Beleuchtung bis elf Uhr in der Nacht geöffnet ist. Der Wind kachelt durch den Krater, ich schlucke Staub und Schwefeldämpfe und weiß, wofür ich ein Stativ mitgebracht habe. Klingt vielleicht sonderbar, aber: es ist so schön! Und auch ein wenig gruslig, denn irgendwo draußen kreischen Kinder und explodieren Knallkörper und ehe ich mich versehe, erschrecke ich dermaßen vor meinem eigenen Schatten, dass ich glatt zwei Meter im Quadrat springe. Also, alles wieder gut. Fuß gut, Auto gut und am Abend wird eine gute Flasche Wein geöffnet und den unzähligen Autos gelauscht, die alarmanlagenhysterisch vor sich hin tuten – offenbar ist auch Pozzuoli halloweenanfällig. Ich höre Country. Sehr zu empfehlen: accuradio.

Wenn DU mich noch EINMAL unter eine Eiche parkst, sagt Carissima. Sorry, sage ich. Wusste nicht, dass Sturm kommt. ES IST HERBST, sagt Carissima. Sorry, sage ich. Lass uns zurück in den Sommer fahren, ok? Ok, sagt sie.

Weißt Du, sagt sie, wenn Du immer gleich so desperat wirst, wenn etwas nicht funktioniert, dann kommt der Blues wieder und ich mag das nicht, wenn der dauernd raucht und nichts sagt. Ich werde nicht immer gleich desperat, sage ich. Ich werde es erst, wenn alles zusammen kommt. Verstehst Du. Naja, sagt sie. Alles zusammen kommen. Ich meine, wenn alles zusammen kommen würde, dann wäre bei mir jetzt was, was Du selbst nicht reparieren kannst. DANN käme alles zusammen. Aber ich fahre ja. Da hast Du auch wieder recht, sage ich. Als ich aus dem Fenster sehe, das blaue Meer und den blauen Himmel und in der Ferne Capri betrachte, sehe ich aus dem Augenwinkel den Blues an einer Bushaltestelle lehnen. Natürlich raucht er. Er hält lässig den Daumen hoch. Wir fahren vorbei.

Vesuv
Von Pozzuoli geht es zurück auf die wahnsinnige Stadtautobahn von Neapel und ich bin einmal mehr völlig außer mir, wie man SO fahren kann. Jeder fährt hier auf die Autobahn, ob Mofa, Dreiradler oder Kleinwagen und jeder fährt so schnell, wie es ihm vorkommt. Will heißen, man kann auch 45 fahren, wenn man grade Lust dazu hat. Und das ist für mich – dieserlei Dinge nicht gewohnt – jedes Mal ein Schock. Warum fährt der so langsam, ist was passiert, worauf muss ich achten, was habe ich übersehen, schießt es mir durch den Kopf und ehe ich es mich versehe, habe ich meine Chance zum Überholen vertan und tuckere hinter einem etwas 100-Jährigen in seinem Fiat Punto her, während der durchgehende Fließverkehr an mir vorbei rauscht und ich keine Chance mehr habe, auf die Überholspur zu gelangen. Vor lauter Stress nehme ich eine Ausfahrt zu früh in Richtung Vesuv. Dieser ist zwar bereits ausgeschildert, aber eben süditalienisch. Sprich, an einer Kreuzung ein Schild, dann wieder vier Kreuzungen nichts, dann wieder ein Schild. Einigermaßen verunsichert schleicht ich durch das Städtchen, versuche mich dem Fahrstil anzupassen, um nicht völlig unterzugehen. Eine Straße mit Stau und Du kommst aus einer Seitenstraße? VÖLLI EGAL! Quetsche Dich irgendwie in den ohnehin bereits stehenden Verkehr, hupe, gestikuliere, nur eines nicht: NACHGEBEN. Und so stehe ich bald mitten auf einer Kreuzung, umringt von hupenden Fahrzeugen, und will eigentlich nur die Straße, in der alles steht, passieren, allein, man lässt mich nicht, was dazu führt, dass ich wiederum alles blockiere. Kein Grund zur Panik. In Italien löst sich derlei einfach auf.

Ich fahre also weiter, irgendwie, komme über Nebenstraßen dem Vesuv immer näher. Hier haben Einheimische Pappschilder aufgestellt, ein Pfeil und „Vesuvio“, wahrscheinlich haben sie all die Touristenmassen, die sich hier verfahren haben, einfach nicht mehr ausgehalten. Endlich dann, die kleine Straße auf den Vesuv. Eine Kurve nach der anderen und so gut wie kein Verkehr. Offenbar bin ich früh genug aufgebrochen – die Anbieter in Pompei, die übrigens hartnäckig behaupten, man dürfe mit dem Privatwagen nicht auf den Vesuv fahren, starten ihre Touren immer um 10.00 Uhr früh. Und jetzt ist es gerade mal halb elf. Acht Kilometer sind es bis zum Eingang zum Vesuv-Nationalpark, sie kommen mir ewig vor. Die Straße ist unheimlich schmal und während ich mir noch die Frage stelle, wie die ganzen Reisebusse in der Hochsaison hier rauf kommen, hupt es schon und ich stehe mitten in einer Kehre vor einem riesengroßen Bus. Also rückwärts zurück, bis eine Stelle gefunden ist, an der der Bus an mir vorbei kann. Der Fahrer lässt es sich nicht nehmen, das Fenster runterzulassen und mir zu erklären, ich solle doch zum Zurückfahren meine Spiegel benutzen. Du blöder Arsch, denke ich, dazu müsste ich sie doch korrekt einstellen. Was ich mir seit Bordeaux (!!!), vor 3.000 Kilometern und sechs Wochen, vorgenommen hatte. Mein Gott, wie die Zeit vergeht.

Dann endlich, der Eingang. Hier wird links und rechts neben der Straße geparkt und wieder einmal frage ih mich, wie das in der Hochsaison alles halbwegs reibungslos vonstatten gehen soll. Jetzt sind bereits fast alle Parkplätze voll. Ich ergattere einen direkt vor dem Kassenhäuschen. Wappne mich mit Rucksack, Kamera und Wasserflasche und es geht los. Und es ist überwältigend. Von dort oben sieht man hinunter auf das alte Pompei, ja, soweit hat es damals die Lava hinuntergespült. Und ich schaue in den Krater hinein. DA kam das alles raus, zum letzten Mal 1944. Dann ist wieder mal mein Objektivdeckel weg, vor lauter schauen, wird aber von einem italienischen Paar sicher gestellt, die mir dann erzählen, wie viele sie selbst bereits verloren haben.

Obwohl ich überwältigt und ein wenig knieschlotternd vom zu rasch bergab gehen bin, beschließe ich, heute noch die Amalfitana zu fahren, überzeugt davon, dass in oder nach diesem schwer touristischen Gebiet sicher ein Campingplatz kommt. Ich sage jetzt mal: in der Nachsaison ist Vorbereitung alles. Sich da auf einen geöffneten Campingplatz zu verlassen, ist einfach vermessen. Doch zuerst: Die Amalfiküste ist bezaubernd, keine Frage. So wie die Küste bei Bagnuls oder die ersten Kilometer der Aurelia auf italienischer Seite. In den kleinen Dörfern wundere ich mich jedes Mal wieder, wenn ICH glaube, an dieser Stelle könnten keine zwei Autos aneinander vorbei und dann noch von einem Einheimischen im Mördertempo überholt werde. Man verlässt sich hier offenbar schlicht darauf, dass es sich irgendwie ausgeht, anders kann ich mir das nicht erklären.

Ich fahre durch eine filmreife Kulisse, fühle mich, wie in einer Romantikkomödie aus den Sechzigern und bete bei jeder Ortsdurchfahrt, dass wir es unbeschadet schaffen. Die Küstenstraße ist wirklich der absolute Wahnsinn, aber mit Abstand die anstrengendste Strecke, die ich je gefahren bin. Naja. Immerhin waren wir heute schon am Vesuv! Warum musste ich unten an der Straße stehen bleiben, fragt Carissima ewas säuerlich. Weil da nur die Autos der Vulkanforscher rauf dürfen, wo die Fußgänger gehen, sage ich. Ich finde das totalen Wahnsinn, sagt Carissima, dass Du mich an dieser Steilstelle einfach eingeparkt hast und mich da Stunden auf Dich warten lässt. Aber, sage ich, gleich nach der Kurve kam das kleine Kontrollhäuschen der Vesuvbetreuer, da darf dann ohnehin kein Auto mehr durch. Dann geht es einen staubigen Weg nach oben, gut 200 Höhenmeter, der zu schmal für Autos ist. Nur die Vulkanforscher krachen da mit ihren alten Fiats hinauf und bei den Knotrollhäuschen werden dann die Ansichtskartenständer beiseite geschoben, damit sie durch kommen. Aber diese Autos, glaub mir, die sind vom vielen Vulkanauf- und abfahren so fertig, die fahren auf keiner normalen Straße mehr. Die fahren den ganzen Tag den Vulkan auf und ab und transportieren Forscher und Solarpanele und Messgeräte hin und her. Und zwischendrin werden sie achtlos am Straßenrand abgestellt, mit dem Zündschlüssel stecken! Sodass sie jeder einfach mitnehmen könnte, rein theoretisch. Wäre das ein Leben für Dich. Muss man sich denn für ein Leben entscheiden, fragt Carissima, kann man nicht einmal so machen und einmal so? Ich befürchte, sage ich, dass man sich entscheiden muss. Also, man kann dann in gewissen Lebensphasen den Plan ändern. Aber in EINER Phase, da muss man wohl EINEN Plan durchziehen, sonst ist man nicht authentisch. Also bin ich in dieser Phase jetzt DEIN Auto, sagt Carissima. Genau, sage ich, nur meines.

In bestem Einverständnis fahren wir weiter und ich beginne, nach einem Campingplatz zu spähen. Es wird ja schon so früh dunkel um diese Zeit! Meine Überlegung – nachdem an der Amalfitana kein Platz zu finden war – ist, die Stadt Salerno auf der Autobahn zu umfahren und dann an die Küste zurück zu kehren, denn hier bestehen die besten Chancen. Nun ist die Autobahn zuerst einmal mittendrin gesperrt und wir werden in einen Vorort abgeleitet, in dem ich mich hoffnungslos verfranse. Es ist hier nicht so wie bei uns, dass Umleitungen konsequent beschildert sind. Irgendwann ist Schluss mit Schildern und während des Tages kann man dann im besten Vertrauen dem Hauptverkehrsstrom folgen. In der Hauptverkehrszeit allerdings fahren überall gleich viele Autos hin und ob man dann noch dem richtigen Schwarm folgt, sei dahin gestellt. Ich für meinen Teil verfahre mich ganz fürchterlich in den agrarindustriellen Vororten von Salerno, sehe gegen die untergehende Sonne gleich null, weiß aber gleichzeitig, dass ich zumindest in die richtige Richtung fahre. Irgendwann bin ich dann auf der Küstenstraße, die Sonne ist dabei, in den Ozean zu stürzen und ich stürze in die Erkenntnis, dass hier wirklich jeder Campingplatz zu hat. Nicht nur jeder Campingplatz, auch jeder Strand ist mit einer dicken Kette abgesperrt, jedes Hotel und jedes Restaurant. Die Stimmung gleicht ein wenig der einen Tag nach einem atomaren Fallout, es ist einfach alles zugesperrt. Bis auf die vielen Prostituierten, die an der Straße stehen und die vielen jungen, ziemlich gefährlich aussehenden Männer, die vor der ein oder anderen Bar herumlungern, ist hier kein Mensch.

Ich rede beruhigend auf mich ein. Du bist seit halb acht Uhr früh auf. Du hast bis auf ein Croissant mit Vanillecremefülle heute noch nichts gegessen. Du fährst seit Mittag anstrengende Bergstraßen. Klar, dass Du ein wenig hysterisch bist. Aber mein Ich will sich nicht von mir beruhigen lassen, ganz im Gegenteil. In der Abenddämmerung, zwischen einer Bar mit mindestens fünf potenziellen Mördern, einer Straßenausweiche mit drei Prostituierten und einem Armeestützpunkt greife ich zu meinem Notebook und versuche, Netz zu bekommen. Jetzt das nächste geöffnete Hotel und ich weiß, wo ich hinmuss! Doch nichts. TIM bietet 2G-Netzverbindung und das heißt, keine einzige Seite lässt sich öffnen. Es wird dunkel und den Tränen nahe fahre ich weiter. Drücke den Knopf der Fahrertür runter, damit niemand meine Tür öffnen kann. Versuche, nicht hysterisch zu werden, obwohl ich es vermutlich schon bin. Ich habe nicht einmal mehr Bier eingekauft – das würde jetzt sicher helfen! Nachdem ich schon bei etwa 20 Campingplätzen stehen geblieben bin, die alle zu hatten, führt mich ein kleines Holzschild in eine Nebenstraße und von dort einen Kilometer durch den Wald. Dann ein rostiges Eisentor. Und dahinter, im Licht von Carissimas Scheinwerfern: zwei sehr alte Männer. Ich denke mir, wenn das jetzt die Rocky Horror Picture Show wäre, dann müsste ich mich wenigstens nicht in aller Stille fürchten, sondern bei sauguter Rockmusik. Aber nichts. Ernst und still werde ich gefragt, was ich will. Eine Nacht schlafen, sage ich. Ja, sagt einer der Männer, es gäbe ZWEI Stellplätze für Nicht-Dauercamper. Vor bis zum Meer und dann rechts, da kann ich stehen bleiben. Ich frage, ob er mir Bier verkaufen kann. Der Market habe um die Jahreszeit zu, sagt er, aber er frage seine Frau. Diese, so sagt er, als er wiederkommt, habe kein Bier, aber ob ich Olivenöl brauche? Ich denke mir, guter Mann, wenn Olivenöl gegen hysterische Angst helfen würde, dann hätte ich den Liter, den ich mitführe, längst ausgesoffen. Sage aber nichts. Der Mann kassiert zehn Euro fürs Übernachten, offenbar traut er mir genausowenig wie ich dem Rest der Welt. Ich parke an der zugewiesenen Stelle hinter all den verlassenen Dauercamperplätzen und fürchte mich fast zu Tode. Vor lauter Panik schütte ich dann noch die Hälfte der Nudeln aus, die ich mir bei Taschenlampenlicht gekocht habe, esse den Rest mit Olivenöl und schlafe dann, ohne Internet, ohne Trost von daheim, hungrig und voller Panik ein.

Kalabrien
Am Morgen donnert das Meer gleich neben mir. Ich stehe auf und mir ist unglaublich kalt. Aber immerhin scheint die Sonne! Ein Mann im Schlafanzug – der einzige Campinggast außer mir, geht zu einem Holztor und öffnet es. Dahinter ist der Ozean. Und ein wunderbarer, einsamer Strand. Nach dem ersten Kaffee kommt ein Hund vorbei und will Gesellschaft. Ich verwende mein in diesem Augenblick komplett nutzloses Notebook zum Eruieren der Zeit und stelle fest: halb acht. Um acht Uhr früh bin ich on the road. Die frühe Stunde hat auch die Kälte erklärt, denn nur zwei Stunden später hat es 25 Grad und ich kann die Pracht dieses Tages kaum fassen. Was alles in der Nacht, in der Müdigkeit, so furchtbar erschienen ist, ist nun halb so wild. Die wilden Messerstecher haben sich in einfache Männer gewandelt, die Kaffee trinken, die Atomunfallgegend ist belebt und Schulkinder warten an der Straße auf den Bus.

Heute möchte ich mich nicht mehr übernehmen. Ich möchte einen Platz am Meer und eine gewaltig gute Internetverbindung. E basta. Ich fahre bis Sapri, denn ab dort beginnt eine meiner guten, neuen Karten, die freundlich und unverbindlich Sehenswürdigkeiten und Campingplätze darstellt und auch Nebenstraßen mitsamt Nummern. Nach der Karte entscheide ich Praia als nächsten Stopp, stelle dort einwandfreies Internet fest und suche einen Campingplatz, der offen hat. Der nächste ist in Diamante und ich finde, dass dieser Ort mir gerecht wird. Zumindest sein Name! Ich bin heute knapp 200 Kilometer Nebenstraßen gefahren und es ist erst 12.00 Uhr als ich ankomme. Der im Internet als Viersterncampingplatz ausgewiesene verwüstete Grund ist von etwa 25 Campern besucht, die alle an der beliebten Waterfront stehen. Ganz vorne am Meer. Für mich ist dort auch noch Platz und so sitze ich nach dieser Horrornacht mit Bikini und Tischchen direkt am Meer und schreibe. Ein freundlicher Brite erklärt mir, warum es hier so aussieht: sie hatten zwei Tage Sturm hier, es habe Bäume entwurzelt und viel zerstört. Darum fahren die drei Männer vom Campintplatz bis spätabends mit dem Bagger und räumen Sträucher, Äste und Schlamm weg.

Kanns nicht glauben. Jetzt sitze ich da mit meinem Stühlchen direkt am Meer und schreibe. Wie in einem kitschigen Film. Voller Netzempfang. Ich ziehe mir Country rein. Sollen die Gigas nur zu wegrinnen. Menschen um mich. Ich rede. Könnte jeden einzelnen umarmen.

Am Vormittag kommt Silvio, der Gasmann, fährt eine Runde über den Platz und man kann seine leeren Gasflaschen bei ihm gegen volle tauschen. Am Abend kommt Paolo, der Gemüsemann, macht einen Heidenkrach, wenn er mit seinem kleinen Bus seine Runde über den Platz fährt und dabei die neuesten Schlager aus dem Lautsprecher dröhnen lässt. Er verkauft Kartoffeln, Paprika und Tomaten, frische Khakifrüchte und Weintrauben. Ich teile mir mit einer Italienerin und einer Deutschen einen acht Kilo Kartoffelsack und erstehe dazu einen Riesenpaprika und ein halbes Kilo Eiertomaten. Das reicht wieder für zwei Wochen!

kalabrien1Heute ist der dritte Tag hier am Campingplatz in Diamante, die dritte Nacht, besser gesagt. Ich schlafe hervorragend, die Tür offen, draußen donnert das Meer, naja, es rauscht eher, sehr mild und mittelmeerlich. Das Wasser ist tatsächlich türkisblau und es gibt einige Tauchzentren in der Nähe.

Der freundliche Brite kommt zweimal am Tag vorbei zum Ratschen, er interessiert sich für mein Solarpanel. Er ist schon in Pension und reist mit seiner Frau kreuz und quer durch Europa, weil sie so im Winter weniger Geld verbrauchen, als zu Hause mit dem Heizen. Der Mann vom Campingplatz kommt einmal pro Tag mit seinem Jeep vorbei, lässt das Fenster runter und fragt, ob ich morgen abreisen will. Wenn nicht, fährt er weiter, sonst müsste ich zahlen. Acht Euro pro Tag, mit Strom. Bei ihm kann man auch Duschmarken für warmes Wasser erwerben. Die braucht man vermutlich im Sommer hier nicht.

Ich finde mich in diesem kleinen, vom Sturm gebeutelten Paradies ein. Schreibe viel, lasse die Sonne auf meinen Rücken scheinen und gehe einmal am Tag ins Meer. Daran wird sich vermutlich in den nächsten Tagen nicht viel ändern – in Griechenland streiken wieder einmal die Fährleute, ja, sie haben meine volle Unterstützung, aber warum soll ich jetzt nach Bari fahren und auf eine Fähre warten, die nie kommt. Online buchen hat auch keinen Sinne, denn viele der Fahrten verfallen einfach. Also bleibe ich hier. Hier war ich noch nie. Und es ist wunderschön.

Erkenntnisse der vergangenen Tage
1. In der Nacht sehen die Dinge viel gefährlicher aus als am Tag.
2. Wenn man nichts isst den ganzen Tag, wirft man am Abend die Nerven weg.
3. In Süditalien ist es immer noch völlig normal, dass Männer einem auf offener Straße zurufen, sie würden gerne einen Kaffee mit Dir trinken. Oder sie werfen Dir Kusshändchen zu, wenn Du mit dem Bus vorbei fährst. Oder sie grüßen Dich sehr lässig mit „salve“, wenn Du mit dem Mountainbike vorbeifährst. Das ist gewöhnungsbedürftig aber nicht unsympathisch. Ich muss immer laut lachen, so sehr amüsiert es mich.
4. Dies hier ist das schönste Büro seit der Erfindung von Office in the Blue.

 

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