Floating Piers

Christo am Iseosee

An einem Abend im Juni sitze ich vor dem Fernsehapparat und werke an meinem dritten Buch. Bald ist es fertig. Auf Dreisat läuft ein Kulturbeitrag über Christo, der am Iseosee ein neues Kunstprojekt verwirklicht hat. Und ich beschließe, dass ich, wenn ich bis Sonntag, 26. Juni, mit dem Buch fertig bin, dorthin fahren möchte.

Und dann ist das Buch fertig – am 24. Juni – und ich fahre am Montag los. Der Iseosee ist verdammt weit weg. Die 515 Kilometer, die der Routenplaner angibt, klingen gar nicht viel, doch es ist heiß, die Straßen sind voll und wir brauchen verdammt lange. Nachdem schon eine Woche vorher von keinem einzigen Campingplatz in der Umgebung mehr eine Rückmeldung kommt, habe ich beschlossen, gegen 18.00 Uhr am See anzukommen, die Stege zu begehen und dann zu späterer Stunde entweder am Gardasee oder weiter oben in den Bergen zu schlafen. Gegen 18.00 Uhr bin ich dann fast am See – nur noch 15 Kilometer, als vor mir ein Unfall passiert. Carissima ist das zweite Fahrzeug, das hinter der Unfallstelle zu stehen kommt. Ein Motorrad. Ein Mann. Eine Frau. Ich springe aus dem Auto. Denke noch, ich sollte Handschuhe anziehen, versuche zu eruieren, wo mein Verbandspackerl ist und weiß im selben Moment, dass es sinnlos ist, danach zu suchen. Ich speichere irgendwo ab, dass ich das Verbandspackerl so verstauen muss, dass ich es griffereit habe, sonst ist es sinnlos. Stürme zur Unfallstelle. Versuche, zu artikulieren, dass ich Sanitäter bin, doch mir fällt kein italienisches Wort ein, nur Paramedics. Ambulancia, das noch, aber das ist wohl spanisch. Eine Frau spricht mich an, sie sei Ärztin, sie kümmert sich um die verletzte Motorradfahrerin.

Wir diskutieren auf englisch über Sturzhelmabnahme und stabile Seitenlage, nein, beharrt sie, das darf man nicht. Also behält der Motorradfahrer den Helm auf und ich mache das übliche Procedere. Jacke auf, Gürtel auf, Handschuhe weg. Puls kontrollieren. Oberkörper und Beine auf Verletzungen kontrollieren. Er hat nur eine Jeans an, jedoch nur eine kleine Abschürfung am Knie. Ich denke über meine Diskussionen zu guten Jeans nach. Der Motorradfahrer blutet aus dem Mund. Die Ärztin kommt zurück, begutachtet mein halbprofessionelles Werk und stellt sich vor. Sie gibt mir die Hand, die in einem Handschuh steckt. Die wusste, wo ihr Verbandspackerl ist. Der Motorradfahrer versucht, seinen Kopf zu drehen und will wissen, wie es seiner Freundin geht. Ich frage noch einmal nach, wie das mit dem Helm so ist und dass ich weiß, wie man ihn abnimmt. Die Ärztin sagt nein. Der Mann ist verzweifelt. Ich schaue zu seiner Freundin, halte seine Hand, erzähle ihm, dass alles in Ordnung ist, obwohl das nicht so aussieht.

In der Ferne höre ich Rettungswägen. Carissima tuckert tapfer mit der Warnblinkanlage, dort, am Ende der Unfallstelle. Autos fahren vorbei, Menschen starren, ich halte die Hand des Motorradfahrers und ein drittes Auto bleibt stehen. Ein Arzt, der ein Blutdruckmessgerät mithat. Die Ärztin schneidet dem Motorradfahrer den Ärmel seiner Jacke auf. Der protestiert. Fragt nach seinem Telefon. Ich sehe einige persönliche Dinge auf der Straße verstreut. Gehe zurück zum Auto, leere meine Zahnbürste, Unterwäsche und Abschminksachen auf das Bettchen und packe die Wertsachen des Motorradfahrers in meine Tasche. Telefonino, Geldtasche, Papiere, Sonnenbrille und Handschuhe. Die Rettung ist endlich da. Der Motorradfahrer fragt zum zehnten Mal nach seiner Freundin. Jetzt kommt ein junge Mann zu ihm und hält seine andere Hand, weint, kann sich nicht mehr beruhigen. Ich stelle fest, dass das der Autofahrer ist, der an dem Unfall schuld ist. Bis jetzt war er im Hintergrund, doch nun, da er offenbar mitbekommen hat, dass hier alles nicht ganz einfach ist, schmeißt er die Nerven weg. Ich danke Gott, dass ich nicht in seiner Haut stecke. Wie oft habe ich heute CDs gewechselt, ohne auf die Straße zu schauen? Wie oft mich während der Fahrt umgedreht, weil irgendwas im Auto umgefallen ist? Wie oft war ich unkonzentriert. Wie oft habe ich telefoniert, eine sms geschrieben, einfach nicht auf die Straße geschaut?

Die Sanitäter – drei Wägen voll – kümmern sich um die schwer verletzte Frau. Zwei von ihnen bringen eine Trage und möchten den Mann darauf packen. Ich lerne, was „tranquilo“ heißt und dass man hier auch „per tre“ die Bergetrage unterschiebt. Gemeinsam mit einem Sanitäter kann ich nun endlich den Helm abnehmen. Der Mann wird auf der Trage fixiert. Ich versichere ihm, dass ich sein telefonino in meine Tasche gepackt habe und das diese mit ins Rettungsauto kommt. Der Autofahrer ist nun kaum mehr zu bremsen. Seine Freundin ist hilflos, sie spricht auf englisch mit mir. Ich hole Wasser aus dem Auto. Die Polizei kommt. Man fragt nach den Daten des Motorradfahrers. Ich krame in der Tasche nach den Papieren, weil ich merke, dass der Mann Schwierigkeiten hat, zu sprechen. Seine Lippe ist geschwollen, er ist wohl beim Sturz auf das Gesicht gefallen. Seine Freundin auch. Die hatte aber offenbar den Helm nicht zugemacht, denn der liegt weit entfernt auf der Fahrbahn. Als beide in die Rettungswägen gepackt sind, werde ich zum wiederholten Male nach den Wertsachen des Motorradfahres gefragt. Irgendwie ist das ein wenig chaotischer als bei uns. Wir haben immer alles einfach ins Rettungsauto gepackt. Nun meint einer er Polizisten, er kümmere sich darum und sammelt Helme, Schuhe und meine Tasche ein. Wir düften jetzt alle gehen, heißt es, und ich taumle zurück. Carissima ist sauer. Das viele Warnblickgeanlage hat ihr nicht bekommen und sie springt nicht mehr an.

Mittlerweile nehme ich das alles nicht mehr tragisch. Ich gehe zurück und sage dem Polizisten, dass ich nicht mehr starten kann. Er ist überfordert, meint, er könne mir jetzt auch nicht helfen, hier muss noch eine Unfallstelle vermessen werden. Ich sage, kein Problem. Wollte ja nur klarstellen, warum ich einfach hier stehen bleibe. Ich sehe den Polizisten beim Vermessen zu. Am Boden liegt eine wunderschöne Triumph. Der Autofahrer ist auch noch da, er dreht durch. Ich versuche, ihn zu trösten. Eine Rettungswagenbesatzung sieht nun, dass hier noch was zu tun ist und kümmert sich um den Mann. So lange, wie die Polizei zum Vermessen braucht. Dann fährt das Rettungsauto weg. Der Unfallfahrer geht zu seinem Auto. Ich frage die Polizisten noch mal. Sie meinen, ob ich Starthilfe brauche. Nein, sage ich. Einfach nur schieben. Und so schiebt einer hinten und einer an der Tür uns als Carissima anspingt, kann ich nur noch grazie uns ciao rufen, der Polizist an der Fahrertür winkt noch und weg bin ich. Komme um halb neun am Iseosee an. Und finde weit und breit keinen Parkplatz, nicht in Sulzano und auch sonst nirgendwo, alle öffentlichen Parkplätze sind voll.

Etwa zehn Kilometer außerhalb sehe ich auf einem kleinen Schotterplatz vor einem Tunnel einen einzigen Parkplatz udn parke zwischen einem anderen T3 und einem T5. Hier werde ich heute nicht mehr wegfahren, so viel ist klar. Ich packe das Rad aus dem Auto und radle nach Sulzano, wo um zehn Uhr am Abend immer noch die Hölle los ist. Nach etwa einer Stunde Wartezeit darf ich mit vielen anderen Wartenden endlich die Stege betreten. Es ist unglaublich. Das Erleben zieht die Menschen mit. Nach wenigen Metern schlüpft jeder aus den Schuhen. Hunderte Menschen wandern mit ihren Schuhen in der Hand barfuß auf den Seidenbahnen über den Iseosee. Es hat immer noch 26 Grad und alle Menschen scheinen leicht zu schwingen. Die Stege leuchten sanft im Licht der aufgestellten Lampen. Rettungsboote fahren auf und ab. Ich denke an den Motorradfahrer und mir fällt ein, dass ich mir noch immer nicht die Hände gewaschen habe. Es ist aber auch egal. Gegessen habe ich auch nichts. Und getrunken eigentlich auch nichts. Auf Monte Isola kaufe ich mir ein kleines Bier und habe danach das Gefühl, zu schweben.

Ich wieder einmal darin bestätigt, dass es genau diese Dinge sind, die wir tun sollen. Kunstwerke besichtigen, die uns berühren. Die Sonne genießen. Ein kleines Bier trinken. Dem Wasser lauschen. Andere Menschen sehen. Denn es kann jederzeit einfach vorbei sein. Und was hat es dann für einen Sinn gemacht, wegen kleiner Dinge zu streiten. Zu versuchen, das Leben zu kontrollieren. Zu versuchen, andere Menschen zu kontrollieren. Gar keinen. Denn ganz am Ende, da kann es sein, dass man am Boden liegt und nur noch bangt, dass der andere noch lebt. Und das ist dann das einzige, das zählt.

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